Die Bedeutung Europas rechtsstaatlicher Grundlagen der Zukunftssicherung

 

Damit bin ich bei Europas Regierungs- und Ordnungssystem und seinen rechtsstaatlichen Grundlagen. Zur Freiheit passen nur demokratisch verfasste Staaten, das hat sich in Europa früher und konsequenter als anderswo durchgesetzt. Griechen und Römer haben uns vor 2500 Jahren Demokratie gelehrt, die europäischen Philosophen der Aufklärung haben sie weitergedacht. Der englische König William III. musste im 17. Jahrhundert die „Bill of Rights“ unterschreiben, nach der „Glorious Revolution“ von 1688. Dieses Papier ist deshalb so wichtig, weil es dem Parlament umfassende Rechte gewährte. Den Abgeordneten wurde Immunität zugesichert, damit sie von nun an frei von königlicher Willkür ihrer Aufgabe nachgehen konnten. Die Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution von 1789, die amerikanische Verfassung des Jahres 1791, die belgische Verfassung von 1831, die deutschen Verfassungen der Jahre 1849 und 1919 sowie das deutsche Grundgesetz von 1949 und auch die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen von 1948 basieren darauf. Diese europäische Verfassungstradition ist längst die bestimmende Kraft weltweit, der auch Diktaturen, die heute dank marktwirtschaftlicher Reformen und technischem Fortschritt wirtschaftliche Erfolge feiern, nicht dauerhaft werden widerstehen können.

 

Keine absolutistische Monarchie, kein Gottesstaat und keine Diktatur waren jemals so erfolgreich wie das vielfältige, freiheitliche Europa. Allein – ein geeintes Europa blieb lange nur ein Traum von Philosophen und Visionären. Doch nach dem Krieg nahm die „Europa-Idee“ als Friedensprojekt Fahrt auf. Winston Churchill sprach 1946 in seiner berühmten Rede in Zürich von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Auch Konrad Adenauer und der französische Außenminister Robert Schuman traten für Einheit und Versöhnung ein. In der Realpolitik ging es dabei anfangs eher pragmatisch darum, die deutsche und französische Kohle- und Stahlindustrie zusammenzubinden. 1951 wurde die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGKS gegründet. 1957 reifte sie in den Römischen Verträgen zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG. 1967 fusionierten die Europäer beide mit Euratom zur Europäischen Gemeinschaft EG. Und seit 20 Jahren, mit Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht 1993, ist wie selbstverständlich die Rede von der Europäischen Union, der EU. Durch die Einführung der gemeinsamen Währung Euro im Jahr 1999 rückte die Gemeinschaft noch enger zusammen und öffnete sich mit der Erweiterung im Jahr 2004 auch für acht Länder Mittel- und Osteuropas. Man sieht deutlich, wie sich im Laufe der 60 Jahre nach und nach Gemeinschaftssinn und Integrationswille in den Vordergrund schieben. Diese Erfolgsgeschichte lässt doch die Erwartung zu, dass auch eine durchaus ernste Euro-Krise die europäische Integration nicht wirklich infrage stellen wird.

 

Das bringt mich zu meinem vierten Punkt: die weltweite Akzeptanz, wenn nicht Dominanz der europäischen Hochkultur. Sobald die materiellen Grundbedürfnisse der Menschen befriedigt sind, entfaltet sich Kultur, entwickeln sich Kunst, Musik und Literatur. Das gilt überall auf der Welt. Denn überall sind großartige kulturelle und künstlerische Werke zu bewundern: in China schon seit 5000 Jahren, in vielen Ländern Asiens, in der arabischen Welt, auch in Afrika und in den indianischen Hochkulturen Mittelamerikas.

 

Aber ich glaube, es sind die Werke der europäischen Hochkultur, die weltweit die größte Akzeptanz finden. Sie beeinflussen heute überall das lokale Kulturleben, und zum Teil dominieren sie es sogar. Nord- und Südamerikaner sind in ihrer großen Mehrheit ohnehin als ausgewanderte Europäer Teil eines europäisch-atlantischen Kulturkreises. Trotzdem hat das amerikanische Kulturschaffen erst nach der Einwanderung von Eliten aus Europa in den dreißiger Jahren und nochmals nach 1945 Weltniveau erreicht, ob in der Literatur, in der Musik, in der bildenden Kunst, ja sogar in Hollywood. Auch in Asien, in der arabischen Welt und in Afrika ist der Einfluss europäischer Kunst und Kultur überwältigend. Um dies zu erkennen, genügt schon ein Blick ins Internet, wenn man kein Weltreisender ist. Für die bildende Kunst zeigen dies die Internetseiten der Museen für zeitgenössische Kunst weltweit oder der Kunstmessen in Hongkong oder Dubai. Bei der Musik beweist das ein Blick in Konzert- und Opernprogramme weltweit. Eine chinesische Oper in Europa ist exotisch, europäische Opern in China sind Normalität. Naturgemäß ist dies in der Literatur weniger ausgeprägt, aber die Sichtweisen, Wertungen und Stile verraten oft europäischen Einfluss. Millionen Nichteuropäer kommen nach Europa, um Kultur zu erleben: Nach München, Luzern und Salzburg für die Musik, zur „Documenta“ nach Kassel, zur Biennale nach Venedig und zur Art Basel für die Kunst. Die Frankfurter Buchmesse ist immer noch die wichtigste weltweit und der schwedische Nobelpreis für Literatur der begehrteste seiner Art.

 

Ich sage das nicht aus europäischer Überheblichkeit oder gar aus Chauvinismus. Ich sage das, um Europas Bedeutung für die Welt – jenseits von Tagespolitik und Wirtschaftskrisen – ins Gedächtnis zu rufen. Aber auch um an Europas Verantwortung für Kultur, Werte und Zivilisation und deren Entwicklung zu appellieren.