Europa als Vorbild für Freiheit, Philosophie und Demokratie

 

Aber kommen wir zu Europa. Vier Elemente sind es vor allem, warum sich die Welt Europa immer noch zum Vorbild nimmt: seine Werte; sein Weg, durch wissenschaftliche Erkenntnis den – nicht zuletzt auch materiellen – Fortschritt der Menschen zu befördern; seine Regierungs- und Ordnungssysteme und deren Rechtsgrundlagen; seine Hochkultur in Musik, Kunst, Literatur und vielem mehr.

 

Der deutsche Bundespräsident Theodor Heuss hat einmal gesagt, dass Europa auf drei Hügeln ruhe: auf der Akropolis, also dem Wert von Freiheit, Philosophie und Demokratie; auf dem Kapitol, also auf römischem Recht und staatlicher Ordnung; auf Golgatha, also auf dem Christentum.

 

Ich glaube, das unterschreiben alle Europäer. Trotzdem taucht heute oft die Frage auf, ob uns das noch weiterbringt. Ob das noch die Bindungskraft hat, die Europa braucht. Ob das noch das Beispiel ist, an dem sich die Welt orientiert.

 

Ich persönlich bin da sehr entschieden: Ja, genau mit diesen Werten fing alles an. In ihnen steckt eine Verheißung. Sie bedeuten für die Welt eine attraktive Vision von einem lebenswerten Leben und Zusammenleben. Europa – mit seinem abendländischen Wertekanon – ist das geworden, was wir aus unserer Kultur von Offenheit, Freiheit, Vielfalt und Wettbewerb, aus der Achtung vor dem Menschen und dem Recht gemacht haben: das maßgebliche globale Kraftzentrum. Während China sich, von der Welt abgewandt, lange kaum weiterentwickelte, hat die Europäer der Wunsch, ihre Werte und den christlichen Glauben zu missionieren, das Streben nach Freiheit, aber auch die Gier nach Gold, Reichtum und Macht zum Aufbruch in die Welt getrieben: nach Süd- und Nordamerika zuerst, dann nach Afrika und Asien.

 

Gerade heute wollen Menschen überall auf der Welt ihr Leben in Würde, Freiheit, Selbstbestimmung und Rechtsstaatlichkeit führen. Ereignisse wie Tian’anmen und Myanmar, Namen wie Mandela und Aung San Suu Kyi und zuletzt die jungen Menschen auf den Straßen von Istanbul bis São Paulo stehen dafür. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo gab es Transparente, auf denen stand: „Thank you, Europe“. Als Europäer muss es uns berühren, dass rund um den Globus Menschen leben, die so fasziniert sind von unseren Werten, dass sie bereit sind, ihr Leben dafür aufs Spiel zu setzen. Sie vertrauen unseren Werten, sie kämpfen dafür. Umso mehr ist es eine Verpflichtung für Europa, Akropolis, Kapitol und Golgatha lebendig zu halten, den Respekt vor dem Individuum, die Bedeutung der Freiheit.

 

Freiheit hat gerade für die intellektuelle Entfaltung stets eine herausragende Rolle gespielt. Damit sind wir beim nächsten Feld, auf dem Europas Zivilisation eine Führungsrolle in der Welt angenommen hat: das Wissenschafts- und das Wirtschaftssystem.Die Aufklärung, diese zutiefst europäische Geistesströmung, prägte im 17. und 18. Jahrhundert vor allem Deutschland, Frankreich und England. Vorausgegangen waren Umwälzungen in der Astronomie, der Physik und anderen Naturwissenschaften. Locke, Rousseau, Voltaire oder Kant: Ihr freiheitlicher Geist wandte sich auch gegen kirchliche und staatliche Bevormundung. Dem Schatten des Mittelalters hielten die Aufklärer das Licht der Vernunft und die Ideale von geistiger Freiheit, von Gleichheit und Toleranz entgegen. Mit wachsender intellektueller und individueller Freiheit entstanden aus Europa heraus Wissenschaft und technischer Fortschritt. Die Dampfmaschine markiert eine Zeitenwende für die ganze Menschheit, den Eintritt ins Industriezeitalter. Es war diese Zeitenwende, die wachsenden Wohlstand für immer mehr Menschen brachte – zuerst in Europa, dann in mehr und mehr Regionen dieser Welt.

 

Die Wirtschaftsleistung pro Kopf – hätte man sie früher schon so gemessen – war bis vor 250 Jahren rund um den Globus etwa gleich hoch. Denn die Produktionsfaktoren waren überall nur Arbeit und Boden. Es waren Europäer, die wissenschaftliche Erkenntnisse in der Industrialisierung kreativ umgesetzt und den heute dominierenden dritten Produktionsfaktor, Wissen und Kapital, für die Welt erschlossen haben. Worauf es mir ankommt: Von der Antike über den Humanismus bis zur Aufklärung lässt sich ein Bogen spannen – ein Freiheitsmodell, das seinen Ursprung in Europa hat und das die Welt überall dort anstrebt, wo Menschen Wohlstand und Würde wollen. Nur zur Erinnerung: Nicht nur Dampfmaschine, Auto, Elektrizität und Penizillin, auch der Computer und das Internet wurden in Europa erfunden. Vermarktet wurden sie in anderen Ländern, aber es waren ebenfalls nach europäischem Vorbild entstandene Industriegesellschaften.

 

Mit den Fortschritten in Wissenschaft, Technik und industrieller Produktion entstand ebenfalls in Europa das Wirtschaftsmodell der Marktwirtschaft. Von Thomas von Aquin bis zu Adam Smith: Europäische Vordenker haben das Rüstzeug entwickelt. Radikal setzten dieses Modell die Amerikaner um, und seit Deng Xiaoping auch das kommunistische China – und mit Erfolg. Sie alle tun das nicht aus Liebe zu Europa, sondern weil sie wissen, dass ein besseres Leben in Wohlstand nur mit technologischem Fortschritt und unter marktwirtschaftlichen Bedingungen gelingt. Die sozialen Verwerfungen, die Kapitalismus und Industriegesellschaft mit sich brachten, haben den Europäer Karl Marx über deren Ursachen und Alternativen dazu nachdenken lassen. Dass seine Analysen und die daraus abgeleiteten Ideologien zu einer mehr als ein Jahrhundert währenden Spaltung der Welt führen würden, hat er nicht vorhergesehen. Aber was ich sagen will: Auch diese Weltrevolution hatte ihre Wurzeln in Europa.

 

Die konstruktiven Elemente sozialistischer Ideale in Verbindung mit dem abendländisch-christlichen Menschenbild haben daraus schließlich die Soziale Marktwirtschaft entstehen lassen: eine kulturelle europäische Leitidee, die es geschafft hat, zur Balance zwischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedürfnissen beizutragen und die sich zunehmend zu einem Exportschlager „made in Europe“ entwickelt.